Die unheimliche Kraft der Passivität
„Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.“ So lautet ein altes Sprichwort. Während des Lock-Downs wurde es mit realem Leben gefüllt.
von Janki Grünberger
Es war in den Wochen zwischen Pessach und Schawuot. Die ersten Lockerungen des Lock-Downs wurden bekannt gegeben und endlich war es möglich die erweiterte Familie in einem der kürzlich geöffneten Bundesgärten zu treffen. Die Gespräche drehten sich naturgemäß um das Coronavirus, um Pessach im engsten Familienkreis und darum, wie jeder von uns mit dieser ungewöhnlichen Situation umgeht.
Durch Verzicht Gutes tun?
Nach einiger Zeit kam ein interessantes Thema auf: Wie sehr schränkt uns Covid-19 in unserem Verlangen ein, Gutes für unseren Mitmenschen zu machen? Auf der einen Seite gibt es viele Mizwot, die auf Grund der Corona-Maßnahmen nur eingeschränkt erfüllt werden können: Besuchen der Eltern und Großeltern, Krankenbesuche, Einladen von Gästen etc., um nur einige zu nennen. Auf der anderen Seite gibt es eine Vielzahl von Initiativen, um Personen und Familien zu helfen, die direkt von der Krise betroffen sind. Die Krisenfonds der IKG und die Verteilung von Lebensmitteln durch die jüdischen Hochschüler sind nur zwei Beispiele von vielen.
Gebot „Pikuach Nefesh“ erfüllen
Im Laufe der Diskussion kam mir ein Gedanke, der mir vor Corona nicht so bewusst war. Wir können auch Gutes für unsere Mitmenschen tun, in dem wir passiv bleiben. Während des Lock-Downs gingen wir nicht in die Synagoge, um ältere Betende zu schützen. Wir gingen nicht zu Freunden, um die Verbreitung des Virus zu stoppen. Wir verließen nicht die Wohnung, um Leben zu retten.
Wir verzichteten auf viele Dinge, die uns wichtig sind, um das essenziele Gebot des Pikuach Nefesh (Erhalt des Lebens) zu erfüllen. Man kann demnach viel Gutes machen, indem man auf etwas verzichtet und vermeintlich passiv bleibt.
Wenn wir diese Lehre aus Corona nehmen und auf die Zeit vor Rosh HaShana und Jom Kippur, die Zeit der Einkehr und der Rückkehr zu G’tt und unseren Mitmenschen, projizieren, so fällt uns auf, dass wir auch außerhalb der Corona-Krise viel Gutes vollbringen können, indem wir Dinge unterlassen. Ein Gerücht nicht weiterzuerzählen, einen Streit nicht fortzuführen, schlechte Dinge über unsere Mitmenschen nicht zu verbreiten sind Dinge, die aktiv dazu beitragen, Differenzen zu beseitigen und das Miteinander zu fördern.
Bedeutung für Rosh HaShana
Zu Rosh HaShana nehmen wir uns vor, unsere Taten zu verbessern und mehr Gutes zu tun. Nehmen wir uns dieses Jahr doch vor, auch manchmal Dinge zu unterlassen, passiv zu bleiben und letztlich auch so Gutes zu tun.
Shana Tova!
Janki Grünberger